Wie oft im Leben ertappen wir uns dabei, dass wir Dinge tun, die wir im tiefsten Innern eigentlich gar nicht wollen. Wir verharren in einem Job, den wir nicht wirklich mögen, nur weil uns der Mut fehlt, ein Angebot anzunehmen, dass uns viel eher entspricht, aber mit vermeintlichen Risiken und Unsicherheiten behaftet ist. Wir sind mit einer Person zusammen, für die wir nicht wirklich viel empfinden, nur weil wir befürchten, niemanden anderen zu finden. Woran liegt es, dass wir im Leben immer wieder nicht auf unser Herz hören? Was hält uns davon ab, zu tun, was wir wirklich wollen?

Die Ursachen sind vielfältig und doch liegen sie, bei näherer Betrachtung, bisweilen schon fast auf der Hand. Bei einer Lebensrückschau sind nicht selten Muster zu erkennen, die sich – wie von unsichtbarer Hand gesteuert – im Leben wiederholen. Es fühlt sich dann so an, als ob ein unsichtbarer Regisseur ab und an das Zepter zu übernehmen und in unser Leben einzugreifen scheint. Kennen Sie dieses Gefühl? Viele von uns könnten solche Geschichten erzählen. Marcel F. auch:

«Ich bin studierter Ingenieur mit einem Executive MBA. Ich machte beruflich schnell Karriere und hatte mehrere Anstellungen auf C-Level. Doch etwas war auf meinem Berufsweg eigenartig: immer mal wieder arbeitete ich unter CEOs, die mir schon nach kurzer Zeit zu verstehen gaben, dass ich Ihnen unterlegen sei und mich entweder zur Kündigung drängten oder mir gekündigt haben. Nach ein paar ähnlichen Erlebnissen fragte ich mich langsam, ob das Zufall ist oder vielleicht sogar an mir selbst liegen könnte.»

Das Lebensskript
Beim Betrachten mancher Lebensläufe drängt sich einem die Frage auf, ob es nur Zufall oder Schicksal ist oder gar ein geheimer Plan, eine unsichtbare Kraft, die da wirkt und eine Person immer wieder in bestimmte Situationen oder Konflikte bringt – in Situationen, die sie nicht will. Nachdem Marcel F. im Coaching sein Anliegen ausführlich erläutert hatte, wurde schnell einmal klar, dass in seinem Leben eine unbekannte Kraft am Wirken ist.

Eric Berne nennt sie Lebensskript. Das Lebensskript ist ein Erklärungsmodell, das beschreibt, wie Menschen sich bereits als Kind einen Entwurf von ihrem Leben machen und davon, wie sie selbst und die anderen Menschen sind und wie ihr Leben zukünftig verlaufen wird . Ich vergleiche dieses Skript gerne mit einem Drehbuch, das uns gewissermassen vorgibt, wie wir in gewissen Situationen im Leben handeln sollen. Wie viele von uns nehmen sich vor, gewisse Dinge im Leben nicht mehr zu wiederholen, nicht mehr auszurasten, nicht mehr verlassen oder nicht mehr beschämt zu werden. Und dann passiert es doch wieder. Und noch mehr: dieses Lebensskript bringt uns sogar Menschen oder Situationen auf unsere eigene Lebensbühne, die uns genau die Erfahrungen machen lassen sollen, die diesem Drehbuch entsprechen – und die wir so gerne vermieden hätten. Irgendetwas in uns ahnte bereits, dass es so kommen musste. Wie entsteht dieses Lebensskript? Lässt es sich umschreiben? Und wie ging es bei Marcel F. aus?

Entstehung
Eric Berne umschreibt das Lebensskript als einen «fortlaufenden Plan, der sich unter starkem elterlichem Einfluss herausgebildet hat». Dieser Plan bestimmt selbst spätere Lebensentscheidungen um Heirat, Geld, Reichtum, Schönheit, Beziehung, Sexualität, Kinderkriegen und vielem mehr: erleben wir uns darin glücklich oder unglücklich, erfolgreich oder erfolglos. Eltern beeinflussen hauptsächlich mit zwei Arten von Botschaften die Entstehung des Lebensskripts ihres Kindes: mit Zuschreibungen, also Botschaften der Eltern an das Kind, wer es ist beziehungsweise wie es ist und mit Einschärfungen, also Botschaften an das Kind, was es tun soll beziehungsweise was es nicht fühlen soll.

Die Entstehung des Lebensskripts und das Lebensskript selbst ist grösstenteils unbewusst. Die unbewussten Anteile des Lebensskripts entstehen in der frühen Phase des Kindseins, in denen das Kind noch nicht sprechen kann und somit keine Möglichkeit hat, seine Gefühle und Erfahrungen in Worte zu fassen oder sich deren bewusst zu werden. In dieser frühen Entwicklungsphase wird das Kind herauszufinden versuchen, wie es sein muss und was es tun kann, damit es von den Eltern gemocht und gut versorgt wird. Wenn dann das Kind etwas grösser wird, geht es nicht mehr so sehr um diese basalen Bedürfnisse, sondern mehr darum, herauszufinden, was für ein Kind es ist und wie es sein muss, um seinen Platz im Leben und seiner kleinen Umgebung einzunehmen.

Wie war das bei Marcel als einjährigem kleinen Buben? Verwandte sind gerade zu Besuch und begutachten ihn in seinem Gitterbettchen. Er schläft. Die Tante unkt «Ganz der Papa», der Onkel «Hoffentlich wird er nicht auch so ein Dickkopf wie der Papa». Und die Mutter: «Tja, der weiss, was er will – schon im Bauch hatte er kräftig gestrampelt und getreten». Diese Zuschreibung der Mutter über das Kind: «der ist ein Dickkopf und der weiss, was er will» kann verhaltenswirksam werden, falls Marcel diese Zuschreibung annimmt – und – im Laufe der Jahre diese Zuschreibung durch das Umfeld weiter verstärkt wird. Jahre später in der Küche, die Mutter zum Vater: «Marcel ist so ein Dickkopf. Das wird mal schwierig mit ihm». Marcel spürt, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung ist. Ein erstes latentes Gefühl von «Ich bin nicht ganz ok, so wie ich bin» beschleicht ihn. Er liebt seine Eltern und weiss auch, dass sie ihn lieben, doch wird er eben alles tun, um von ihnen gemocht und versorgt zu werden – um ok zu sein. Etwa im Alter von drei bis vier Jahren wird sich bei Marcel ein Grundgefühl dafür entwickelt haben, ob er willkommen ist oder nicht, ob er ok ist oder nicht. Ein Grundmuster legt sich unbewusst in ihm fest.

Marcel ist jetzt gut vier Jahre alt. Er spielt des Öfteren mit seinem Vater im Wohnzimmer mit Holzbauklötzen. Turmbauen ist schwer angesagt. Seine Türme sind oft wackelig und nicht sehr hoch. Deshalb baut ihm sein Vater ein höheres, stabileres Holzkonstrukt. Der kleine Marcel wird darob wütend und schlägt mit voller Wucht den Turm des Vaters zu Boden. Denkt er jetzt «Papa kann eh alles besser als ich» oder «Blöder Papa». Dieser Gedanke ist naheliegend, für ein Kind in seinem Alter aber zu komplex, da er seinen Vater ja mögen will. Und einen blöden Papa kann man nicht mögen. Also denkt er andersherum: «Ich bin zu doof, einen Turm zu bauen». Ein Skriptglaubenssatz wird geboren. Und wenn die Eltern, unabsichtlich und keinesfalls böswillig, ab und an zu ihm sagen «Du Dummerchen, sei doch vorsichtig», dann wird der Glaubenssatz zementiert. Unbewusst tief neuronal gespeichert und auch im Erwachsenenleben immer noch da und unbewusst geglaubt. Und eben lebensprägend.

Auflösung
Ein Lebensskript wird dem Kind nicht einfach aufgezwungen oder ist von Gott gegeben. Kinder bringen ihre eigene Persönlichkeit mit in diese Welt, ihren ureigenen Wesenskern. «Physis» nennt Eric Berne diesen Kern und verdeutscht ihn als «schöpferische Wachstumskraft». Jedes Kind reagiert dank seines Wesenskern anders auf die Einflussfaktoren in seinem Umfeld. Das Kind entscheidet für sich selbst, ob es eine Zuschreibung annimmt oder nicht. Als Erwachsene sind wir uns dieses Lebensskripts aber für gewöhnlich kaum mehr bewusst. Unter Stress oder in Konflikten beginnt unser Skript dann wieder aktiv zu werden.

So auch bei Marcel F. Zwischen ihm und seinem Chef kam es des Öfteren zu Konflikten – die Transaktionsanalyse würde von «psychologischen Spielen» sprechen. Und in diesen Auseinandersetzungen erlebte sich Marcel F. immer und immer wieder als der kleine, 4jährige Marcel von damals. Unbewusst und von ihm nicht erkannt wirkte dieser Lebensskript unaufhörlich in seiner Karriere. Bis zum Zeitpunkt, als er das Heft in die Hand nahm, um den Ursachen auf den Grund zu gehen. Im Coaching konnten wir mittels einer Skriptanalyse das eigentliche Muster erkennen und mittels verschiedener Praktiken den Skriptglaubenssatz auflösen oder zum Stillstand bringen. Es gibt zahlreiche Methoden, wie zum Beispiel die NAEM-Methode, wie man Skripts beenden kann. Aus meiner Erfahrung ist der allerentscheidende Faktor aber, dass man überhaupt er- und anerkennt, dass ein solches Lebensskript in einem am Wirken ist.

Warum entscheidet sich ein Kind für ein bestimmtes Lebensskript, wohingegen ein anderes Kind in derselben Familie sich dagegen entscheidet? Welche weiteren Wirkmechanismen führen dazu, dass wir in unserem Leben immer wieder an denselben Problemen oder Fragestellungen hängen bleiben? In einem weiteren Blog zu diesem Thema werde ich näher darauf eingehen.